Branding braucht heute kein Mensch mehr. Sagte er…
Zuletzt stand ich bei einem Abend-Event mit einem dynamischen Marketer aus einem großen Konsumgüter-Konzern zusammen. Er Führungskraft im Anzug und ich Agenturchef in Turnschuhen. Seine Ärmel waren bereits hochgekrempelt, das Freibier rötete schon seine Wangen. Ich hatte das Gespräch mit der üblichen:
„Was machen Sie denn so?“
Floskel eingeleitet und nach einem längeren Monolog fragte er mich auf die gleiche Art und Weise zurück:
„Branding für die heutige digitale Zeit. Ich hab‘ meine eigene Markenberatung und Agentur“
war meine (durchaus übliche) Antwort.
Seine Antwort wiederum überraschte mich:
„Ach je. Branding braucht heute kein Mensch mehr. Customer Centricity. Das ist die heutige Zeit. Wir machen was funktioniert. Der Kunde entscheidet wie wir sein müssen. Keine oberschlaue Agentur.“
Sprachs, prostete mir zu und verschwand.
Nun stand ich da. Ratlos im Nachhall seines etwas zu üppig aufgetragenen Aftershaves und stutze. Ist es so? Braucht es in dieser digital-opportunistischen, durch den Kunden getriebenen Welt, tatsächlich kein Branding mehr? Der Grund warum ich für diese Millisekunde ehrliche Selbstzweifel bekam, war, dass mir just einen Tag vorher eine Chief Digital Officerin exakt dasselbe gesagt hatte. Fast aufs Wort derselbe Inhalt.
Es dauerte ehrlich gesagt nicht lang. Ich war mir schnell wieder sicher, dass genau das Gegenteil richtig ist. Ich weiß sogar, dass das Gegenteil richtig ist. Aber mal ehrlich: Wenn meine eigene Zielgruppe eine solche Haltung äußert, finde ich das natürlich nicht besonders toll.
Und dann denkt man nach. Was sind die Gründe, dass sich viele so äußern?
Ein Grund ist sicher, dass viele Marken kein zeitgemäßes Branding haben. Sondern sperrige, dicke Regelbücher und für den Alltag irrelevante Strategien. Heute funktioniert Kommunikation einfach anders als vor 20 Jahren. Denn so alt ist der Methodenbaukasten der meisten Branding-Agenturen gut und gerne.
Und daraus resultieren ein paar große Herausforderungen:

Herausforderung 1: Daten getriebenes Marketing bedeutet Opportunismus.
Das digitale Marketing ist heute direct-response und Daten getrieben. Der User reagiert auf Headlines und Bilder, sein Klickverhalten ermöglicht eine direkte Rückmeldung. Das Bild funktioniert. Die Message funktioniert nicht. Oft messen wir das Kundenverhalten bis zum Sales, berücksichtigen also auch die Kaufentscheidung. Wir optimieren weiter und weiter. Strategisch arbeiten wir mit Customer Journeys und KPIs. Eine Markenstrategie scheint hier keinerlei Antworten zu geben. Ganz im Gegenteil. Manchmal performen Werbemittel besser, die eben nicht der definierten Marke entsprechen. Der Umsatz geht hoch, obwohl ich mich nicht markenkonform verhalte.
Tatsächlich ist es kurzfristig sogar spuckeinfach Clickraten und KPIs hochzutreiben. „10 Dinge die du noch nicht über XY wusstest..“ bedient eben universale Handlungsmotivatoren. In diesem Falle die Neugier. Weiterhin kommen wir gerade aus der Goldgräberzeit des digitalen Marketings. Einfach zum richtigen Zeitpunkt da zu sein führte bereits zu Erfolg. Heute ist die „Marketinglogistik“ geklärt. Es sind sehr viele zum richtigen Zeitpunkt, im richtigen Format am richtigen Ort. Das bedeutet aber etwas:
Relevanz entsteht wieder ausschließlich durch Inhalt.
Langfristig ist es wichtiger denn je im Leben der Zielgruppe eine Rolle zu spielen. Denn Marken werden in den Lebenskontext der Zielgruppe eingebaut:
- Ich trage Kleidungsmarken, die mich und meine Haltung repräsentieren (z.B. Nike).
- Ich konsumiere Lebensmittel, die mich und meine Haltung repräsentieren. (z.B. Alnatura)
- Und ich setze im Büro Software ein, die meine Selbstsicht bestätigt (z.B. Slack)
- …
Eine Marke die sich über Sinn definiert, statt über Regeln, bietet hier riesige Chancen. Und Marken, die Daten aktiv nutzen statt im stillen Kämmerlein als Kopfgeburt zur Welt zu kommen, werden langfristig erfolgreicher sein. Aktiv nutzen bedeutet aber nicht dem Opportunismus Tür und Tor zu öffnen. Es bedeutet wirklich herauszufinden was die Zielgruppe bewegt.

Herausforderung 2: Back to the 70’s – alte Methoden für neue Zeiten
Ein Monolith, festgemauert und unverrückbar. Oft haben wir es damit als Marke zu tun. Damit quasi das Gegenteil dessen, was unsere dynamische Zeit heute braucht. Steffen Fischer und Peter Kiefer von Grabarz & Partner haben zuletzt in der New Business einen Artikel veröffentlicht, in dem eine neue Markendenke vorgestellt wird. Je Kundensegment sollen adaptierte Markenableitungen geben, in die Daten aus den Segmenten einfließen. Eine Interpretation der Marke, des CD, der Argumente für jede Zielgruppe. Und damit eben kein Monolith, sondern viele „kleine Marken“ stattdessen, die regelmäßig auf Basis des Kundenwissens und der Kundendaten angepasst werden sollen. Ich verstehe den Sinn dahinter, auch wenn ich die Methode noch nicht optimal finde. Die alten Monolithen passen nicht mehr zur Zeit, zu den digitalen Medien und vor allem nicht zur individuellen Ansprache auf Basis von Daten und Customer Insights.
Was es heute braucht sind keine Monolithen. Es sind Muster. Gary Vaynerchuck sagte dazu mal:
“At the end of the day there is only one thing that constitutes “brand.” It’s how you feel in the moment you interact with the product, service or business.”
Die Brand-Experience zählt, nicht die Brand-Theorie. Diese muss in jedem Kontext, Medium oder Touchpoint konsistent und kohärent sein. Das kann man nicht verregeln, man muss es verstehen und anwenden.
Brandning funktioniert wie ein Date – mit Argumentation, regelkonformen Verhalten und auswendiggelernten Schlagsätzen kommt man nicht sehr weit..
Er hatte Unrecht...
In Zeiten, in denen viele dem Opportunismus freien Lauf lassen und parallel Marke im Leben der Zielgruppe eine immer wichtigere Rolle einnimmt – da wird Marke wichtiger und nicht unwichtiger.
Er hatte also Unrecht. Wie ich es ja in diesem Moment schon wusste. Aber ich verstehe diese Haltung.
Das Branding ist bei den meisten Unternehmen noch nicht in der heutigen Zeit angekommen.
Ist ja auch klar – Branding war und ist ein Metier von alteingesessenen Markenberatungen und Design-Agenturen. Erstere sind oft sehr akademisch und wenig kreativ und letztere meist nicht gerade Daten-affin.
Gottseidank gibt es mmntm. brand strategists…